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WuppertalKultur & Bildung

Hans-Singer-Weg

Auf Grundlage eines Beschlusses der Bezirksvertretung Elberfeld-West wurde der Fußweg entlang der Wupper zwischen Moritzstraße und Robert-Daum-Platz in Hans-Singer-Weg benannt. Die Einweihung erfolgte am 21.08.2024 durch den Oberbürgermeister Uwe Schneidewind.

Prof. Dr. Hans Wolfgang Singer

(*29.11.1910 Elberfeld, † 26.02.2006 Brighton)

Vortrag von Prof. Dr. Hans Frambach zur Einweihung des „Hans Singer-Weges“ am 21.08.2024, Wuppertal

Der Elberfelder Hans Wolfgang Singer wird am 29.11.1910 in Elberfeld geboren, er stirbt am 26.2.2006 in seinem 96. Lebensjahr in Brighton. Nach dem Abitur 1929 beginnt er auf Drängen des Vaters, einem beliebten Elberfelder Arzt, ein Medizinstudium an der Universität Bonn. Er wird Mitglied der Sozialistischen Studentenvereinigung. Bereits im 2. Semester wechselt er, begeistert von den Vorlesungen des Bonner Star-Ökonomen Joseph Aloys Schumpeter, zum Studium der Volkswirtschaftslehre, das er 1931 mit der Diplomprüfung abschließt. Anschließend tritt er eine Mitarbeiterstelle bei Arthur Spiethoff mit dem Vorhaben an, über städtischen Wohnungsbau und Grundstückspreise zu promovieren.

Nur wenige Monate nach der Machtergreifung der Nazis emigriert Hans Singer im Sommer 1933 über die Schweiz in die Türkei. Er möchte er als Forschungsassistent bei dem – gerade von den Nazis aus seinem Amt entfernten und nach Istanbul emigrierten – Ökonomen Wilhelm Röpke, einem der späteren Gründungsväter der sozialen Marktwirtschaft, seine Doktorarbeit fertigstellen. 

Doch schon im Oktober 1933 bittet Singer Schumpeter in einem Brief um Unterstützung bei der Ausreise in die USA. Schumpeter hatte Hans Singer bereits im September 1932 angeboten, mit ihm an die Harvard University zu wechseln, was ersterer jedoch aus persönlichen Gründen ablehnte. Jedenfalls vermittelt Schumpeter ein zweijähriges Postgraduierten-Stipendium am King‘s College der Universität Cambridge in England, das die Fortsetzung der in Deutschland begonnenen Dissertation ermöglicht. Singer verlässt die Türkei im März 1934. Die Reise nach Cambridge führt ihn über Deutschland. In Hildesheim heiratet er am 24.03.1934 seine Verlobte Ilse Lina Praut. 

Hans Singer promoviert im November 1936 als vierter Promovend der ökonomischen Fakultät der Cambridge University. Maßgeblich betreut wird die Arbeit von einem früheren Assistenten William Henry Beveridge’s (Direktor der London School of Economics and Political Science), von Colin Clark, dem John Maynard Keynes eine Anstellung als Dozent für Statistik in Cambridge beschafft hatte. 

Es ist genau die Zeit der Entstehung von Keynes‘ bahnbrechender General Theory. In den sie begleitenden Diskussionsrunden und Seminaren atmet Singer die Keynesianische Denkweise an Ort und Stelle geradezu ein. Später wird er auf die Frage, was er eigentlich von Keynes gelernt habe, antworten: ALLES. Was meinte Singer damit?

Er versteht darunter die zentralen keynesianischen Begriffe und Konzepte, vor allem aber das, was er als die „Keynesianischen Werte“ bezeichnet: die Menschen als die wahren Ressourcen eines Landes. Daraus leitet sich für Singer die Aufgabe der ökonomischen Analyse schlechthin ab: die Menschen vor Vergeudung und Verschwendung zu schützen, womit der Fokus automa­tisch auf die Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit gerichtet ist.

Auf Empfehlung von Keynes kann Hans Singer in einer vom Pilgrim Trust in Auftrag gegebenen Pionierstudie über Arbeitslosigkeit in Großbritannien mitarbeiten, die vom Erzbischof von York und später Canterbury, William Temple, initiiert und von William Beveridge als Hauptberater betreut wird. Die Studie wird in den Jahren von 1936-38 durchgeführt. 

Untersucht werden darin vor allem die gesellschaftlichen Auswirkungen von Arbeitslosigkeit und die Folgen, die insbesondere von langfristiger Arbeitslosigkeit auf die Betroffenen ausgehen. Eine Orientierung an der österreichischen Studie Die Arbeitslosen von Marienthal ist erkennbar, zumal einer ihrer Mitbegründer, der Psychologe Ludwig Wagner, zum Projekt hinzugezogen wird. Die Hauptverfasser des Reports der Pilgrim Trust-Studie, die 1938 und dem Titel Men without Work erscheint, sind, Hans Singer, Walter Oakeshott und David Owen. 

Aus nicht im Report verwendeten Material verfasst Singer 1940 das Buch Unemployment and the Unemployed. Er widerspricht darin der damals verbreiteten Vorstellung von einer feststehenden Zahl an Arbeitsplätzen, die Menschen einfach nur ergreifen müssten, um Arbeit zu bekommen.

Mit Kriegsbeginn wird Singer interniert, kommt jedoch bereits nach sechs Wochen auf persönliche Intervention von Keynes und Temple frei. Er arbeitet bis Kriegsende als Dozent an der Universität Manchester, danach kurz im Ministerium of Town and Country Planning und anschließend an der Universität Glasgow. Während des Kriegs veröffentlicht er allein zwölf Artikel über deutsche Kriegswirtschaft im von Keynes herausgegebenen Economic Journal, und weitere Beiträge zur deutschen Kriegsfinanzierung sowie zu Rationierungspraktiken bei Güterknappheiten und Inflationsgefahren. 

In seinem zentralen Werk Unemployment and the Unemployed unterscheidet Singer fünf Grenzen des Matchings von Arbeitssuchenden und Arbeitsplätzen, die zum damaligen Zeitpunkt wegweisend sind und heute zum Standard der Arbeitsmarktanalyse zählen: 1. die Entfernung zwischen Arbeitssuchenden und freien Arbeitsplätzen, 2. der Mangel an Qualifikationen, 3. das Alter der Betroffenen, 4. Geschlechterdiskriminierung), und 5. der strukturelle Wandel (wie er sich sehr negativ in den Jahren zwischen den beiden Weltkriegen auf den Handel in Großbritannien ausgewirkt hatte).

Diese Sicht stellt, ganz wie bei Keynes, eine klare Abkehr von der klassischen Vollbeschäftigungsökonomie und insbes. der Vorstellung von nach immer gleichen Gesetzmäßigkeiten ablaufenden wirtschaftlichen Prozessen dar. 

Aufgrund seiner intensiven Auseinandersetzung mit den Problemen der Armut und Arbeitslosigkeit findet Singer einen direkten Zugang zu den Arbeiten über die Umsetzungs­ideen eines Wohlfahrtsstaates. Durch das Arbeitslosigkeitsprojekt des Pilgrim Trusts kennt er Lord Beveridge persönlich und bewundert ihn, vor allem aber seine Arbeiten zur Sozialversicherung, an erster Stelle den „Beveridge-Plan“, also Social Insurance and Allied Services (1942) und die 1944 erschienene Schrift Full Employment in a Free Society. Wie wir wissen bildet der Beveridge-Plan die Grundlage der Sozialversicherungssysteme vieler Staaten.

Singer studiert den Beveridge-Plan bzw. das neue System gründlich und mit dem bei Keynes erlernten Blick auf Wirtschaftspolitik. In seiner 1943 verfassten Schrift Can We Afford ‘Beveridge’? über das neue von Beveridge vorgestellte soziale System, beantwortet er diese Frage mit den Worten “that not only could we afford it, but we could not afford not to afford it”. In dem Beitrag analysiert Singer mit höchster intellektueller Schärfe die grundsätzliche Frage, „wie viel Verbesserung sich eine Gesellschaft überhaupt leisten kann, und ab welchem Preis jede weitere Verbesserung zu teuer wird?“ 

Der Beveridge-Plan setzt staatliche Finanzierung voraus. Dazu werden vier Argumente zur, wie er es nennt, „Bedeutungslosigkeit von Währungssymbolen“ (Geld) angeführt:  

  1. Geld an sich ist völlig belanglos, außer: als Gutschein für Güter. Geld sei ebenso bedeutungslos wie ein Ticket für ein abgesagtes Konzert. Bei den zu tätigenden Ausgaben für den Beveridge-Plan gehe es hingegen um echte Güter und nicht um eine abgesagte Veranstaltung. 
  2. Das Opportunitätskostenargument. Gibt es eine bessere Verwendung der zur Finanzierung des Beveridge-Systems erforderlichen Mittel? Zu bedenken sei stets, dass „die wirklichen Kosten für das, was wir genießen, im Verzicht auf den Genuss anderer Möglichkeiten bestehen“. M.a.W.: bei der Vermeidung von Massenarbeitslosigkeit sind Ausgabenzweifel zugunsten zusätzlicher Beschäftigungsmöglichkeiten hintanzu­stellen. 
  3. Singer stellt klar: das Staatsbudget ist ein Verteilungs- und kein Absorptionsorgan, Konsumenten erhalten für die Steuern Gegenleistungen. Insofern sind Steuern zur Finanzierung sozialer Ausgaben keine Last und entsprechende Interpretationen absurd, die eine steigende Staatsverschuldung als Zeichen des nationalen Bankrotts deuten. Im Gegenteil: zusätzliche Verschuldung ermöglicht es genuine Kosten in Form später auf­tretender sozialer Ausgaben zu senken. Ein deutliches Plädoyer also für eine Umsetzung der Beveridge Reformen auch mittels höherer Staatsverschuldung. 
  4. Singer geht auf die beim Beveridge-System zusätzlich aufzubringenden Kosten von damals ₤318 Mill. (bei Gesamtausgaben von ₤858 Mill.) ein. Ausschlaggebend dabei: für die Finanzierung ist die relative und nicht die absolute Größenordnung relevant, d.h. man soll sich nicht einfach von hohen Summen abschrecken lassen. 

Wie Keynes und Beveridge erkennt Singer in den sozialen Problemen und der Arbeitslosigkeit mit ihren negativen Wirkungen auf die Menschen die wesentlichen Herausforderungen von Gesellschaften und somit auch den eigentlichen Gegenstandsbereich von ökonomischer Theorie und Politik. Damit richtet sich der Blick auf die Gesellschaften, in denen die Probleme am größten sind: die Entwicklungsländer. Zu wenig hätten sich die Ökonomen dieser angenommen, zu sehr seien ihre Ansätze national geprägt, zu sehr seien sie auf große Industriestaaten bezogen und zu kurzfristig ausgerichtet. 

Während ein schrumpfender Anteil der Weltbevölkerung den Lebensstandard rasch erhöht habe, stagniere er bei einer wachsenden Mehrheit. Singer beobachtet, dass die zunehmende Ungleichheit des Welteinkommens auf eine wichtige strukturelle Veränderung zurückzu­führen sei, nämlich auf eine Verschiebung der Preisrelationen zwischen Rohstoffen und Industriegütern. Er zieht den Schluss, dass sich die Bedingungen für die Rohstoff-exportieren­den (unterentwickelten) Länder verschlechtern, während sich die der reichen Industrieländer verbessern. 

Bekanntermaßen wurde dieses Thema für Hans Singer zentral und sollte seinen wissenschaftlichen Höhepunkt in der berühmten Prebisch-Singer These erreichen.

Im Jahr 1947 folgt Hans Singer einer Einladung David Owens, seinem ehemaligen Mitstreiter an der Untersuchung der Arbeitslosigkeit des Pilgrim Trust, der inzwischen Leiter der Abteilung für wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten bei den neu gegründeten Vereinten Nationen in New York ist. Singer soll ihm beim Aufbau der neuen Abteilung unterstützen. Aus einer zunächst zweijährigen Vereinbarung werden 22 Jahre, in denen er die UN in vielen ihrer Organisationen federführend repräsentiert. Neben seiner Haupttätigkeit unterrichtet er als Gastprofessor über Jahre hinweg abendlich an der New York School for Social Research. 

1969 verlässt Hans Singer die UN, um am wenige Jahre zuvor gegründeten Institut of Development Studies (IDS) an der Universität von Sussex in Brighton zu wirken. Auch nach seiner Emeritierung 1985 wird Singer dem IDS Zeit seines Lebens verbunden bleiben, was eindrücklich 97 Bücher und Berichte sowie 61 weitere Berichte für die UN und 176 Artikel belegen, die er dort veröffentlicht hat. In vielen dieser Arbeiten kommen seine frühen Erkenntnisse aus den Untersuchungen über die Arbeitslosigkeit und deren Folgen zur Anwendung. Auch wird die Prebisch-Singer-These mehrfach an die sich verändernden Gegebenheiten in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen angepasst. 

Es ist schwierig bis unmöglich, in einem Zeitfenster von 20 Minuten einen auch nur annähernden Überblick von Hans Singers herausragenden Leistungen aus seiner Zeit bei der UN und am IDS zu geben. Erlauben Sie es mir deshalb, mich auf wenige Beispiele zu beschränken. Gemeinsam mit Richard Jolly leitet Singer Anfang der 1970er die „ILO Employment Mission to Kenya“. Wesentliche Ergebnisse der Mission veröffentlichen sie 1973 in dem Aufsatz Unemployment in an African setting: lessons of the employment strategy mission to Kenya. In dem Beitrag werden die Grundzüge des sog. „redistribution from growth Ansatzes“ entworfen, aber auch die Berücksichtigung des informellen Sektors und vor allem der Beseitigung unter dem Existenzminimum liegender Löhne gefordert. Damit ist das Grundgerüst der entwicklungspolitischen Strategie einer Allianz von IDS, ILO und Weltbank skizziert, und die Weiterentwicklung zum späteren „basic needs“-Ansatz der ILO vorgezeichnet.

In dem Beitrag How relevant is Keynesianism today for understanding problems of develop­ment von 1998 präzisiert Singer wesentliche Grundideen des Keynesianismus. So mache die von Keynes häufig angewandte Unterscheidung in Vollbeschäftigte und Vollarbeitslose für Entwicklungsländer wenig Sinn, da aufgrund der dort fehlenden sozialen Sicherungssysteme Vollarbeitslosigkeit schlichtweg mit dem Entzug der Existenzgrundlage gleichzusetzen sei. Grundlegend bei Keynes sei vielmehr das Konzept der verdeckten Arbeitslosigkeit und die Idee eines sich selbsttragenden, dynamischen Wirtschaftswachstums. 

So sei Keynes‘ primäres Anliegen auch niemals die Frage gewesen, wie ein einmal erreichter Zustand der Vollbeschäftigung aufrechterhalten werden könne, als vielmehr die Reduzierung der Arbeitslosigkeit, also das Erreichen von Vollbeschäftigung, und dies mittels einer hohen effektiven Nachfrage und der Förderung öffentlicher Investitionen. 

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Situation ist heute wie damals: 

  • eine wachsende ungleiche Verteilung von Einkommen und Vermögen, 
  • eine zunehmende Diskrepanz von Arm und Reich, 
  • eine steigende Zahl in Not geratener Menschen, auch jenseits der Betrachtung sozialer Sicherungssysteme. All diese zu bekämpfen war zeitlebens das Anliegen von Hans Wolfgang Singer. 

Er wird zum Kreis der weltweit bekanntesten Entwicklungsökonomen zählen, sein Lebenswerk durch viele Auszeichnungen geehrt werden. 1994 wird er von Queen Elisabeth II zum Ritter geschlagen. Allein zum Doktor ehrenhalber wird er von sieben Universitäten ernannt. Besonders erwähnenswert: Die Universität Freiburg verleiht ihm, gemeinsam mit Albert O. Hirschmann, einem anderen Emigranten und weiteren Pionier der Entwicklungsökonomik, 2004 die Ehrendoktorwürde im Rahmen eines Symposiums zum 60. Jahrestag des Attentats auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944.

Und heute, weitere 20 Jahre später, gedenken wir Hans Wolfgang Singer mit einer sichtbaren und bleibenden Ehrung, der Einweihung des „Hans-Singer-Weges“ hier in Wuppertal-Elberfeld.

                

Bildrechte: Institute of Development Studies, Brighton

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Bildnachweise

  • Institute of Development Studies, Brighton
  • Institute of Development Studies, Brighton

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