Der Jubiläumsbrunnen auf dem Neumarkt und die Moral
Ein Tourist aus Wuppertal, der den barocken Brunnen „Fontana del Nettuno“, also den Neptunbrunnen auf der „Piazza Duomo“, dem Domplatz in Trient, besichtigt, wird sich verwundert die Augen reiben und sich fragen: „Träume ich oder steht dieser Brunnen nicht sonst zu Hause in Wuppertal auf dem Neumarkt?!“ Mit dieser Vermutung liegt er gar nicht so ganz falsch, denn der Düsseldorfer Bildhauer Leo Müsch (1846-1911), der den Elberfelder Jubiläumsbrunnen 1900-1901 errichtet hat, hat tatsächlich den Neptunbrunnen von Trient, der bereits in den Jahren 1767-1768 entstanden ist, nachgebildet.
Auf dem Foto sehen wir den Elberfelder Jubiläumsbrunnen auf dem Neumarkt. Einige Personen tummeln sich am Brunnen, der im Sommer Kühlung oder durch das Hineinwerfen von Münzen Glück verspricht. Offensichtlich ist gerade Markttag, denn dahinter sind einige Marktstände zu erkennen. Rechts ist die Fassade des im Jahre 1900 fertiggestellten Rathauses zu erkennen. An der Stelle der Häuser im Hintergrund steht heute der Kaufhof.
Der Elberfelder Verschönerungsverein, der 1870 von dem Kaufmann Gustav Platzhoff (1821-1887) gegründet worden war und der die Hardtanlagen und andere Elberfelder Parks anlegte, hegte und pflegte, feierte im Jahre 1895 sein 25jähriges Bestehen. Aus diesem Anlass stiftete der Verein der Stadt Elberfeld einen Brunnen von beachtlichem Ausmaß, der den Namen „Jubiläumsbrunnen“ erhielt. Da am Neumarkt das neue Rathaus entstehen sollte, beschloss man, ihn dort aufzustellen, „in der Nähe des Haupteingangs des Rathauses und in der Achse der Friedrichstraße“, wie die Stadtväter Anfang 1900 festlegten, denn in diesem Jahr wurde auch das Rathaus vollendet.
Man engagierte den Bildhauer Leo Müsch für die Schaffung dieses Brunnens, denn man wusste, dass er sein Handwerk verstand. 1882 hatte der von ihm gebaute Schalenbrunnen am Corneliusplatz in Düsseldorf für Furore gesorgt und 1888 hatte er bereits in Cronenberg die drei Terrakotta-Medaillons mit den Reliefbildern der Kaiser für den Drei-Kaiser-Wasserturm geliefert.
Nun also baute er aus rotem Mainsandstein diesen insgesamt 11,5 m hohen Neptunbrunnen nach Trienter Vorbild mit einem im Durchmesser 8 m breiten, mehrfach geschwungenen Becken, mit diversen Wesen wie Meeresgott, Nixen und Seeungeheuern. Darüber ein dreistufiger Aufbau mit Tritonen, Putten und Delphinen und oben thront ein 3 m hoher Neptun mit seinem Dreizack. Der Dreizack war ja in der griechischen Mythologie eigentlich die Waffe des griechischen Meeresgottes Poseidon und auch des Triton, aber da der römische Gott Neptun ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. dem Poseidon gleichgestellt wurde und auch zum Gott des Meeres wurde, durfte er sich mit der Riesengabel schmücken.
Ist ja alles schön und gut, doch als am 25. September 1901 für den Feinschliff an diesem 40000 Mark teuren Geschenk des Verschönerungsvereins an die Stadt die Plane entfernt wurde, die bis dahin den Brunnen verhüllte und Details an den Brunnenfiguren sichtbar wurden, gab es einen Riesenaufstand. Die Geschlechtsteile der männlichen Fabelwesen waren als solche deutlich zu erkennen. Die Kirchen, vor allem die katholische, und viele Bürger (aber nicht alle) waren entsetzt angesichts dieser schamlosen Darstellung, es wurde heftig protestiert, sogar Bibelstellen wurden bemüht und während die Wogen so richtig hochkochten, fühlten sich ein paar sogenannte Volkserzieher berufen, einige der Brunnenfiguren über Nacht zu kastrieren. Manche forderten gar den Abriss des Brunnens. Vor allem August von der Heydt, der Vorsitzende des Verschönerungsvereins, bekam den Volkszorn zu spüren und sah sich Vorwürfen mangelnder Moral in seiner Familie ausgesetzt. Dieser erklärte sich am Ende bereit, die steinernen Wesen in ihrer Körpermitte mit Akanthusblättern bedecken zu lassen.
Schließlich wurde der Jubiläumsbrunnen der Öffentlichkeit am 28. Oktober 1901 ohne offizielle Einweihung übergeben und ohne, dass es zu einer Einigung über die Freizügigkeit der Darstellungen am Brunnen gekommen war. Doch am 4. Februar 1902 entschied die Stadtverordnetenversammlung, den Brunnen in seiner bestehenden Gestaltung zu belassen, zumal jede Änderung daran wiederum Anlass zum Protest geben könnte.
Irgendwann haben sich die erhitzten Gemüter dann beruhigt. Neptuns abgeschlagene Männlichkeit wurde später wieder ersetzt, aber die Spuren der damaligen Auseinandersetzung kann man heute noch sehen. Vielleicht sollte man zu Vergleichszwecken mal nach Trient zum dortigen Neptunbrunnen fahren, um zu sehen, wie freizügig die Brunnendarstellung der Italiener aussieht und ob auch dort so kontrovers über diese Moralfrage diskutiert wurde. Immerhin stehen die Brunnen in beiden Städten vor historischer Kulisse: der eine vor dem Rathaus in Elberfeld, der andere vor dem Dom von Trient (der Betrachter möge selbst entscheiden, welches Ambiente ihm besser gefällt).
Mittlerweile hat der Zahn der Zeit am Jubiläumsbrunnen genagt und er müsste saniert werden. Es gibt zwar regelmäßig Reinigungs- und kleinere Restaurierungsarbeiten, aber für eine grundlegende Sanierung fehlt das Kleingeld…